Meine „Tochter“ Hexe

Diese Kurzgeschichte entstand Ende der 1940-er Jahre und hat einen autobiografischen Background. 

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Als mir ein Bekannter vor etwa zwei Jahren ein lächerlich kleines, braunes, krabbelndes Wesen in die Stube setzte und sagte: „Das ist Hexe, ich bekomme 15 DM“, da wusste ich zunächst nicht, was ich sagen sollte. Ein Zwergdackel hat das Recht, zwergenhaft zu sein, aber was mich da mit großen, braunen, ungeheuer traurigen und doch frechen Augen ansah und rhythmisch mit dem Schwänzchen wedelte, war ein Pygmäe unter den Dackeln. Nun gut, ich zahlte die 15 DM und nahm Hexe in die Hausgemeinschaft auf. Wenn ich heute, nach zwei Jahren, den Zwerg mit dem wackelnden Schwänzchen betrachte, so sehe ich eine würdige Hundedame mit den Launen einer Diva, den Manieren eines Gassenjungen und der Treue – hier gibt es eigentlich keinen Vergleich, daher sage ich – mit der Treue und Anhänglichkeit eines Dackels. Meine Frau, die den Namen Hexe zu vulgär fand, nennt sie Mulle. Ich habe im Lexikon nachgelesen, dass Mulle ein Volksname für Maulwurf ist, und finde nun meinerseits, dass der Ausdruck Maulwurf für meinen allgemein bewunderten Dackel eine Beleidigung ist. So entstand zunächst der erste Ehestreit wegen Hexe, bei dem sie sich ängstlich in ihr Kissen rollte – sie schläft selbstverständlich auf der guten Couch – und uns allein die Regelung der Angelegenheit überließ. Das ging so weiter, zum Beispiel, wenn ich nachts um 2:30 Uhr mein „Töchterchen Hexe“ auf den Hof führen musste oder wenn sie darauf bestand, umgehend ausgeführt zu werden, um ihre Krallen abzuwetzen.

Dackel sind wasserscheu. Wenigstens ist es Mulle – Verzeihung –, meine Hexe. Wenn sie die Waschschüssel sieht, verkriecht sie sich unter dem Ofen oder spreizt alle Pfoten, wirft mir einen Blick zu, der mich in tiefster Seele verwundet und mich zwingt, das Baden meiner Frau zu überlassen. Denn Sie, die Sie keinen Dackel haben, wissen nicht, wie ein Dackel einen ansehen kann. Alle Leiden und alle Frechheit der Kreatur liegen in einem solchen Blick, vor dem Sie – wenn Sie ein Herz für Hunde haben – rettungslos kapitulieren und zum ersten Mal spüren, dass der Mensch trotz seiner geistigen Größe von Natur aus schwach ist.

Es gab große Männer, die studierten die Seele des Hundes. Anatol France schrieb sein berühmtes Bekenntnisse und Meinungen des Hundes Riquet und Jack London verliebte sich in einen Terrier und schrieb ein dickes Buch darüber. Und Hermann Löns soll beim Tod einer seiner Heidewachteln acht Tage lang getrauert haben und ging nicht mehr zur Jagd. Wenn ich das meiner Frau sage und damit ausdrücke, dass ich bei einem Unfall von Hexe in Schwarz gehen werde, treffe ich auf ein verständnisloses Lächeln und die Meinung: „Der Mulle stößt nichts zu!“

Man kann dieser Ansicht sein. Denn meine Tochter Hexe hat sich weitestgehend von den Pflichten eines Dackels entfernt und begonnen, sich die Bequemlichkeit der Menschen anzueignen. Statt auf die Jagd zu gehen und in Fuchsbauten zu schlüpfen, liegt sie auf der Couch, natürlich auf dem besten Kissen, und sie knurrt sogar, wenn man sich danebensetzen will. Das muss man respektieren, sonst hat man bei ihr von vornherein verspielt. Einem Freund von mir, der das nicht wusste, passierte das Unglück, sich auf Mulles – Verzeihung –, Hexes Decke zu setzen und es war unmöglich, ihn weiterhin einzuladen. Hexe will es nicht! Es hat auch keinen Zweck, darüber mit meiner Frau zu debattieren, Hexe versteht uns nämlich genau. Und das ist es, was mich wehrlos macht – wenn Hexe mich anschaut und in ihrem Blick zu lesen ist: Alter Gauner, du kannst sagen, was du willst, ich weiß, was du gesagt hast. Ob ich zu meiner Frau meine: „Wir gehen gleich in die Stadt“, – Hexe steht auf und kommt wedelnd zu uns, sie will mitgehen. Ob ich sage: „Heute gehen wir ins Kino“, – Hexe kriecht unter ihre Decke und rollt sich zusammen, sie macht sich fertig für einen längeren Aufenthalt ohne Herrchen. Und wenn ich gar sage: „So, jetzt essen wir!“, – dann steht sie schon an ihrem Fressplatz und macht „Wuff“, um zu zeigen, ich bin bereit.

Dass dies kein Instinkt ist, weiß ich seit Langem. Meine Hexe versteht unsere Sprache. Das ist für mich so sicher wie 1 x 2 = 2 ist. Denn auch wenn ich sage, „Was hast du da gemacht?“, klemmt sie den Schwanz ein, verengt ihren Körper ganz fürchterlich und bietet so ein Bild völliger Zerknirschung, das nicht mehr übertroffen werden kann. Anatol France sagt zwar in seinem Hundebuch, Hunde haben eigene Gedanken und eine eigene Sprache, aber ich glaube, dass sie – natürlich vor allem meine Hexe – ausgesprochen sprachbegabt sind und sich ärgern, dass sie nicht selbst sprechen können. France schreibt darüber: „Ob die Menschen eine Sprache besitzen, weiß ich nicht. Die Tatsache, dass sie unterschiedliche Töne aus ihrem Munde entlassen, lässt jedoch darauf schließen. Sei es, wie es sei, Tatsache ist, dass die Hundesprache kürzer, prägnanter und wohllautender ist als die Menschensprache.“

Wie armselig ist da die Ansicht der Tierpsychologen, die allen Ernstes behaupten, ein Hund verstünde im höchsten Fall nur 20 Wörter und diese auch nur an ihrem Tonfall. Ich habe, als meine Frau diesen Artikel vorlas, sofort meine Hexe ins Nebenzimmer getragen, damit sie das nicht hört. Ich lasse meine Tochter nicht beleidigen, auch nicht von Tierpsychologen. Und dann habe ich meiner Frau verboten, in Gegenwart von Hexe ein abfälliges Wort über Hunde zu sagen. Es tat mir zwar leid, dass meine Frau darauf acht Tage nicht mehr mit mir sprach, aber schließlich muss man gerecht sein und die Wesen schützen, die wehrlos den menschlichen Launen preisgegeben sind.

Meine Hexe ist dabei ein großer Pazifist. Wie es dazu kam, ist mir ein Rätsel. Sie fällt ohne vorherige Warnung jede Uniform an. Erst biss sie den Briefträger, weil er eine Uniformmütze trug, dann ging sie auf zwei Polizisten los, schließlich ärgerte sie die Besatzungsmacht. Da hielt ich es für ratsam, ihr immer, wenn eine Uniform kam, laut „Pfui“ zuzurufen. Merkwürdigerweise haben mir die Uniformierten das übel genommen und mich zweimal verwarnt. Und selbst das hat Hexe gemerkt. Sie ignoriert jetzt einfach alle und dackelt über die Straße, als gäbe es keine Menschen.

Der Höhepunkt meines Kampfes um die Ehre meiner Tochter Hexe begann, als wir eine neue Wohnung bezogen. Die Zimmer gehören zu einem Genossenschaftshaus und diese Genossenschaft will keine Tiere in ihren Häusern. Ich bitte Sie, man will mich zwingen, meine Tochter Hexe aufzugeben? „Ha!“, habe ich gesagt. „Das gibt es nicht. Eher verzichte ich auf die Wohnung, als mich von Hexe zu trennen!!“

Es wurde ein Drama. Handelnde Person war meine Frau, der tragische Held war ich. Aber ich habe gesiegt, wir haben gesiegt: Hexe wohnt in der neuen Wohnung, trotz des Verbotes – sie gehört jetzt zu den Illegalen. Das war der Höhepunkt in Hexes Diva-Leben: Sie wurde geheim. Wenn es draußen auf dem Flur schellt, wenn Schritte im Treppenhaus ertönen, wenn der Briefträger kommt, der Milchmann, der Bäcker, der Ableser der elektrischen Wasseruhr, einer ist immer damit beschäftigt, Hexe die Schnauze zuzuhalten, „Psst, psst!“ zu machen und „Sei still, Mulle“ zu flüstern. Gott sei Dank war noch keiner von der Wohnungsgenossenschaft selber da. Für diesen Zweck habe ich von meiner Schwiegermutter eine Bescheinigung, dass sich Hexe nur acht Tage zu Besuch bei uns befindet.

Im Augenblick liegt meine Tochter Hexe wieder auf der Couch und hört Puccinis Madame Butterfly. Sie hört gerne Musik, ihre Lieblingsstücke sind die Opern von Puccini und der „Cowboysong“ Die Geisterreiter. Bei Wagner dreht sie sich tief in ihre Decke – ich habe es nicht vermocht, sie von seiner Musik zu überzeugen. Bei Hindemith klemmt sie den Schwanz ein, Hunde haben eben ein feineres Gehör als wir Menschen …

Ich kann nicht weiterschreiben, es kratzt an der Tür und macht leise „Wuff“. Meine Tochter Hexe will aufs Höfchen. Das ist wichtiger als so ein dummer Artikel über einen Hund. Ich bitte um Verzeihung: Es ruft die Herrchen-Pflicht. Wenn sie nachher mit ihren schmutzigen Pfoten bloß nicht wieder auf die gute Couch springt …